Zeit für den industriepolitischen Neustart

Die Belastungen sind enorm: Corona-Pandemie, Folgen des russischen Krieges in der Ukraine, Regulierungswelle und Transformation. Nur durch große Kraftanstrengungen ist die chemisch-pharmazeutische Industrie so gut durch den Winter gekommen. Doch die großen Herausforderungen lassen nicht nach.

Zeit für den industriepolitischen Neustart

Regulierungswelle bremst Transformation aus

Die Unternehmen in Deutschland unterliegen einer zunehmenden Regulierungswelle, die in den letzten Jahren an Intensität zugenommen hat. Bis zu 150 Regulierungen und Vorgaben aus Brüssel, Berlin und Mainz betreffen verschiedene Bereiche der chemisch-pharmazeutischen Industrie, darunter Umwelt- und Klimaschutz, Zwangsrabatte, Arbeitszeitrecht, Nachweisgesetz, Lieferkettengesetz und Chemikalienmanagement. Sie kommen geballt, gleichzeitig und treffen die Branche wie ein Tsunami.

Diese Regulierungswelle erzeugt hohe Unsicherheiten, da sie mehr Bürokratie, weniger Handlungsfreiheit und höhere Kosten mit sich bringt. Es erfordert zudem zusätzliche „Vorschriften-Experten“, um den regulatorischen Anforderungen gerecht werden und Rechtsfallen zu vermeiden.

Umsetzung der IED-Richtlinie uneinheitlich

So ist die Umsetzung der IED-Richtlinie zur Verbesserung der Umweltauswirkungen von Industrieanlagen in den EU-Mitgliedstaaten nach wie vor uneinheitlich. Während in Deutschland auf EU-Vorgaben noch eine Schippe draufgelegt wird, bestehen immer noch Herausforderungen bei der Durchsetzung und Umsetzung der Richtlinie in anderen Ländern.

Es fehlt eine koordinierte Wasserstoff-Strategie

Wasserstoff ist eine vielversprechende Option für eine kohlenstoffarme Energiewirtschaft, auf die sich auch die chemisch-pharmazeutische Industrie ausrichtet. Es wurden bereits verschiedene Initiativen gestartet, um die Wasserstoffproduktion, -speicherung und -nutzung in der EU zu fördern. Allerdings sind noch viele Herausforderungen zu bewältigen, darunter die notwendige Infrastruktur für Wasserstofftransport und -verteilung. Was fehlt, ist eine umfassende und koordinierte Strategie auf EU-Ebene sowie gezielte und wirtschaftlich sinnvolle Investitionen in Forschung, Entwicklung und Infrastruktur, um das volle Potenzial von Wasserstoff als Teil des EU-Energiemixes zu realisieren. In Rheinland-Pfalz haben wir mit der „Roadmap Wasserstoff“ eine gute Grundlage. Entstanden ist diese Studie maßgeblich auf Drängen der Chemieverbände Rheinland-Pfalz. Nun gilt es, die nächsten Schritte zu gehen und keine Zeit zu verschwenden.

Green Deal – viel, ambitioniert und alles gleichzeitig

Der Green Deal ist ein ehrgeiziger Plan, um Europa bis 2050 klimaneutral zu machen und ökologische Nachhaltigkeit zu fördern. Richtig gemacht, eröffnet er Chancen für Umwelt, Klima und Unternehmen im globalen Wettbewerb. Doch die politischen Anforderungen an die Chemie sind gewaltig. Vier große Transformationen sind zu bewältigen: Unsere Branche soll nicht nur treibhausgasneutral und digital werden, sondern auch zirkulär und schadstofffrei. Und das alles zur gleichen Zeit.

Die EU-Chemikalienstrategie zielt darauf ab, den Einsatz gefährlicher Chemikalien in Produkten zu reduzieren und die nachhaltige Nutzung von Chemikalien zu fördern. Sie ist Teil des Green Deals und seit der Veröffentlichung im Oktober 2021 setzt die EU-Kommission mit großen Ambitionen parallel viele der angekündigten Maßnahmen um. Dies betrifft neben der CLP- und der REACH-Revision weitere legislative und nicht-legislative Initiativen. Besonders herausfordernd sind die Anzahl und Verzahnung geplanter Maßnahmen sowie die Schnittstellen zu anderen „Green Deal“-Maßnahmen.

Einige der wichtigsten Herausforderungen für die energieintensive chemisch-pharmazeutische Industrie sind:

  • Dekarbonisierung der Produktionsprozesse
  • Investitionsbedarf in neue Technologien
  • Globale Wettbewerbsfähigkeit
  • Regulatorische Rahmenbedingungen
  • Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft

Chemie-Industrie braucht mehr Freiheiten und Technologieoffenheit

Die Chemie will die Transformation hin zu einer treibhausgasneutralen und zirkulären Wirtschaft. Die Betriebe wollen den innovativen deutschen Standort. Doch das Fundament unseres industriellen Wohlstandes bekommt Risse. Und davor warnen die Chemieverbände nicht erst seit gestern.

Die Betriebe brauchen wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen, damit sich die Investitionen am heimischen Standort langfristig lohnen. Die Wettbewerber sind in den USA, China und Asien – mit deutlichen niedrigeren Industriestrompreisen, deutlich weniger Regulierungsflut und besserer Förderung.

Die Politik ist gefordert, gute Lösungen zu liefern. Für das Land und die Menschen. Dafür brauchen wir einen industriepolitischen Neustart – ohne ideologische Scheuklappen. Das Engagement der Branche braucht ein stabiles Fundament und vor allem wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen. Dazu gehören bezahlbare Industriestrompreise, ein Regulation Reduction Act sowie freier Handel.

Die Chemieverbände setzen sich intensiv dafür ein, dass die Interessen der deutschen Industrie in politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden. Auf Landesebene im Transformationsrat. Auf Bundesebene mit der Innnovationsagenda Chemie. Der Besuch von Kanzler Scholz in Mainz ist ein sichtbarer Ausdruck unseres Austausches. Wir werden den Dialog mit allen relevanten Akteuren fortsetzen und gemeinsam nach Lösungen suchen, um den Industriestandort Deutschland zu stärken.

Das könnte Sie auch interessieren

Wir.Hear. - Der Podcast zur Chemie-Industrie im Wandel